Sonntagsessen mit Hindernissen
Was ich heute erzählen möchte, könnte auch auf der Bühne des Volkstheaters spielen. Die Szene zeigt eine gutbürgerliche Gaststätte. An einem Tisch sitzt eine Familie mit Oma, Opa, zwei Kindern, etwa 10 und 12 Jahre alt, und die Eltern der Kinder. Die Familie kommt ins Blickfeld, da die Oma immer mal wieder husten muss. In Zeiten von Corona fällt das natürlich doppelt auf. An einem anderen Tisch sitzt ein älterer Mann allein. An weiteren Tischen sitzen weitere Gäste. Das Restaurant ist voll besetzt. Es herrscht eine gemütliche Stimmung. Leises Gemurmel der sich unterhaltenden Gäste ist zu hören. Die freundliche Bedienung fragt nach den Wünschen der Gäste und trägt Getränke und Essen aus.
Inzwischen haben fast alle Gäste ihr Essen bekommen. Das Gemurmel wird leiser, da ja jeder mit Essen beschäftigt ist. Der allein sitzende Mann bekommt gerade seine Speise - Schnitzel mit Pommes. Mit Messer und Gabel, die er jeweils mit der ganzen Hand umfasst wie ein Stück Holz, zerschneidet er sein Fleisch komplett in kleine Stückchen. Als alles zerteilt ist, legt er das Messer weg. Jetzt umfasst er mit der rechten Hand, mit allen Fingern die Gabel, den rechten Ellenbogen weit nach außen ragend. Er stützt den linken Ellenbogen auf dem Tisch und den Kopf auf der Hand ab. Nun schaufelt er, man kann es nicht anders sagen, das Essen in sich hinein. Die beiden Kinder vom Nachbartisch beobachten das sehr interessiert und machen es nach. Oh je, das kommt nicht gut an. Von ihrer Mutter werden die Kinder zurechtgewiesen und mit Nachdruck aufgefordert, doch bitte ordentlich zu essen. Jetzt haben die Familie und der allein sitzende Mann die volle Aufmerksamkeit aller Gäste im Lokal. Die nette Bedienung verdreht nur die Augen und grinst. Dem allein sitzenden Mann ist das alles so peinlich, dass er, so schnell er kann, sein Essen reinschaufelt, bezahlt und fluchtartig das Lokal verlässt.
Den Kindern wird, dank ihrer Eltern die sie anleiten, wie man mit Messer und Gabel isst, später eine solche Peinlichkeit erspart bleiben. „Höflichkeit und gutes Benehmen ist die angenehmste Art sich gegenseitig auszuhalten“. (Loriot 1923 - 2011). Der Eine oder die Andere hat sich vielleicht schon einmal gefragt, wie man das denn macht mit dem „ordentlich essen“, wenn man schlecht oder gar nicht sehen kann? Für solche Menschen gibt es, neben dem Mobilitätstraining, eine Schulung „Lebenspraktische Fähigkeiten“ (LPF), bei der es viele Tipps gibt, wie man sich den Alltag erleichtern kann. Unter anderem kann hier auch erlernt werden, wie man sich auf seinem Teller zurechtfindet.
Ein Bekannter, der zunehmend schlechter sieht, hat einen solchen Kurs besucht und unter der Augenbinde geübt „unfallfrei“ mit Messer und Gabel zu essen. Für ihn war das besonders wichtig, da er immer mal wieder an Geschäftsessen teilnehmen muss. Wie jeder von uns weiß, sind bei solchen Gelegenheiten gute Tischmanieren von großem Vorteil. Ansonsten kann es so ausgehen, wie ich es in unserer Firma erlebt habe. Niemand wollte mit einem bestimmten Kollegen zu Tisch gehen, weil es keiner ertragen konnte diesen Kollegen gegenüber sitzen zu haben und ihm beim Essen zuzusehen.
Wie kann man einer blinden Person helfen, sich auf dem Teller zurechtzufinden? Man stelle sich den Teller wie eine Uhr mit Zeigern vor und nennt die gedachte Uhrzeit, auf der sich die Speisen befinden.
„Die Erbsen liegen auf halb sechs, die Bratkartoffeln zwischen zwei und halb vier, die Wurst zwischen zehn und halb zwei und der Senf zur Wurst auf neun Uhr“. So zum Beispiel kann man sich beschreiben lassen, wo sich welches Essen auf dem Teller befindet. Ansonsten kann man es auch mit Messer und Gabel fühlen, wo sich etwas befindet. Dann ist es aber eine Überraschung, was es ist. Beim Kuchen helfe ich mir, neben der Kuchengabel, mit dem Kaffeelöffel. So brauche ich nicht die Finger nehmen, um mit dem Kuchen zurechtzukommen.
Traute Salzmann, im Februar 2023
Dies ist eine der Geschichten „Aus dem Buch des Lebens erzählt“. Gesammelt und aufgeschrieben vom Team der IG BarriereFREI und mit dem Einverständnis der Erzählenden veröffentlicht.
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Sprecherin/Sprecher der IG BarriereFREI sind Traute Salzmann und Rolf Leipold.
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